Eine Hommage an den Verfall

Schutt, abgebrochene Balken, zertretene Feuerlöscher, zerborstene Fensterscheiben und zerrissene Flaggen – mit ihrer Installation “Höhle des Löwen” nehmen Andreas Tanzer und Jeremias Altmann das Löwendenkmal in Luzern kritisch auseinander. Im Interview mit 0816 erzählen die beiden Künstler auch über ihr erstes gemeinsames Bild “Die Strafkolonie” frei nach Kafka und ihr Prinzip der Angewandten Respektlosigkeit.

Wie kam es zu eurer Installation in der Luzerner Kunsthalle mit dem Titel “Höhle des Löwen”? Wie beschreibt ihr eure Installation?

Andreas: Seit 2013 arbeiten wir an der Serie grey time. Grundsätzlich nehmen wir immer von der zuvor entstandenen Arbeit Bruchteile auf und transferieren sie in die nächste. Dazu haben wir letztes Jahr im Kunsthistorischen Museum eine Ausstellung gehabt, die mit “Bruchteile im Museum” betitelt war. Im Museum haben wir uns von der Antike über diverse Malereiepochen Bruchstücke aus der Kunstgeschichte herausgeholt und diese in eine große Schutthalde zusammenkomponiert. Jetzt sind wir im Moment daran, in der Höhle des Löwen diese Bruchstücke zu kombinieren. Die Malerei wird hier zu einem haptischen Erlebnisort. 

Die Malerei wird zu einem haptischen Erlebnisort. 

Jeremias: Ein begehbares Haldenbild, eine begehbare Fundstück-Ansammlung, eine Manifestation von Verfall. Zum Einen ist das ein Ausstellungsprojekt, das sich mit diesem Löwendenkmal unmittelbar hier in Luzern auseinandersetzt, das Ende einer Trilogie. Zum Anderen sind wir als Künstlerkollektiv dazu eingeladen, nicht nur das Bühnenbild für die restliche Ausstellung zu machen, sondern eine eigenständige Arbeit als Installation mit dem ganzen Schutt, der hier vorzufinden ist, zu verwirklichen. Man kann sagen, dass sich das hier tatsächlich als begehbare Malerei denken lässt. Dadurch, dass wir uns in der Vergangenheit immer wieder quer durch die künstlerischen Medien gearbeitet haben –  Druckgrafik, Kurzfilm, Ölmalerei, Installation, Skulptur – ist das hier die logische Fortsetzung von dem, was wir in der Vergangenheit gemacht haben. Auf keinen Fall ist es der Endpunkt, aber ein guter Zwischenschritt, weil sich hier wieder so viele Medien zueinander aufbauen und positionieren müssen. Das, was wir sonst im zweidimensionalen Sinne zum Beispiel bei der Ölmalerei machen – Blickregie, Dynamik, Komposition – ist hier genau die gleiche Frage. Das ist auch dieser Widerspruch zwischen einem offensichtlich zurückgebliebenen Rest von Zivilisation, die totale Reglosigkeit, das bloße in sich ruhende Gewicht, und gleichzeitig einer extrem dynamisierten Komposition. Ein ständiges Umwälzen von Sedimenten der Vergangenheit. 

Schutt, Schrott und Staub - kompositorisches Rearrangieren (c) jeremiasaltmann
Schutt, Schrott und Staub – was finden wir als Spezies konservierungswürdig? (c) jeremiasaltmann

Andreas: Das ist ein kompositorisches Rearrangieren. Nachdem wir mit vier Händen arbeiten, und nicht wie die meisten anderen Künstler herkömmlich mit zwei Händen, werden einem oftmals Bruchteile in den Weg gelegt, die man nicht so erwartet hat und da kann man nicht anders als darauf zu reagieren. Jeremias hat gerade über die Spannungsbögen und die Komposition geredet. Diese ergeben sich oftmals durch eben genau dieses spontane Reagieren. Zu zweit ergibt sich da eine ganz spannende, unerwartete Dynamik.

Hier ist es so, dass wir zum ersten Mal mit Material arbeiten, das von Vornherein schon dieser Rest ist.

Jeremias: Es gibt bei der Installation eine Meta-Ebene, die es für uns im Kunsthistorischen Museum zum ersten Mal gab. Wir haben unsere Arbeiten bisher nur aus uns selbst entstehen lassen. Wir malen ein Bild – die Farbe gibt es schon – die Ideen werden technisch transferiert, inhaltlich verschränkt und beeinflussen dann so die Komposition des Bildes. Abbildungen von zerfallenem Material mit Geschichte. Jetzt haben wir im Kunsthistorischen Museum, anders als hier, bereits bestehende Ruinen vorgefunden, nämlich als Hintergrundmalerei von Tizian oder Veronese, als Versatzstücke von Ruinenlandschaften von Johann Schönfeld, und uns quer durch die Kunstgeschichte bedient. Wir haben natürlich auch die tatsächlich zerbröckelnden antiken Statuen mit hineingebaut, und sie als Versatzstücke in unserer eigenen Haldenstruktur verwendet. Bei dieser Installation ist es so, dass wir zum ersten Mal mit Material arbeiten, das von Vornherein schon dieser Rest ist, wahrscheinlich von mehreren Ein-Familien-Häusern, die uns hier gerade umgeben.

Wie sieht eure Höhle des Löwen aus?

Jeremias: Wir betreten die Luzerner Kunsthalle, einen langgezogenen Schlauch mit einer Glaswand auf der linken Seite, einer weißen Museumswand auf der rechten Seite, und der ganze Raum ist mit Anhäufungen von Schutt, abgebrochenen Balken und Planken durchzogen, die teilweise so ganz wild aus dem Boden stehen. Es ist eine eher feindselige Atmosphäre, wenn man sich vorstellt, dass es hier bald Kinderführungen geben wird. Der Schutt, der hier aufgehäuft ist, mitunter übermannshoch, wurde uns von einer Baufirma zur Verfügung gestellt, die tatsächlich Abrisse macht. Es sind vielleicht Versatzstücke von einem ehemaligen Fußballstadion, einem Einfamilienhaus, einem Kinderschwimmbad, einem ehemaligen Museum, man weiß es nicht. Der Schutt kommt als anonymes Versatzstück daher, ist aber schon extrem aufgeladen mit menschlicher Geschichte, weil er Teil einer Infrastruktur war und somit schon eine bestimmte Bedeutung hatte. Für uns hat es einen halb humoristischen Beigeschmack, dass wir jedes winzige Bröckerl dieser riesigen Schuttansammlung noch einmal aufladen, weil wir es mindestens schon vier Mal in der Hand hielten. Es ist unglaublich viel Bewegung, die dieses Material jetzt schon erfahren hat und die hoffentlich auch beim Betreten des Raumes spürbar ist.

Die Höhle des Löwen - Blick auf die Luzerner Kunsthalle (c) jeremiasaltmann
Die Höhle des Löwen – Blick auf die Luzerner Kunsthalle (c) jeremiasaltmann

Andreas: Was wunderschön ist, ist der Fakt, wenn man sagt, wir haben im Kunsthistorischen Museum eine altgriechische Skulptur vor uns, die heroisch ist, aber komplett zerbrochen, also nicht so, wie sie damals gedacht wurde, als sie von der künstlerischen Hand geschaffen worden ist. Dennoch wird diese Skulptur gehuldigt als Objekt der Begierde, vielleicht sogar stärker als je zuvor. Und jetzt stehen wir da und sehen zerbrochene Ziegel, zerbrochene Latten und Zäune von Ein-Familien-Häusern, die durcheinander verworren sind, die alle auch eine Absicht hatten, die alle auch mal etwas abgebildet haben: Häuser, die stabil standen, Zäune, die den Garten hinter sich verborgen hielten. Es ist eigentlich das selbe Spiel, derselbe Spiegel, nur dass es von der Welt der Kunst zur Welt der Menschen übergeht. So wirkt es direkter, klarer und näher bei den Menschen als es oftmals und vielleicht auch oft leider in der Kunstblase ist.

Die Berechtigung, die der eine hat, die Arbeit des anderen auf der Leinwand zu zerstören.

Jeremias: Was noch zu unserem Arbeitsprozess zu sagen ist, ist unser Prinzip der Angewandten Respektlosigkeit – die Berechtigung, die der eine hat, die Arbeit des anderen auf der Leinwand zu zerstören. Der eine arbeitet vielleicht ganz aufmerksam und akribisch an einem Detail, der andere beschließt, na das wird grad zu lieblich, und knallt den nassen Fetzen drüber –  zerstört damit stundenlange Arbeit. Und das lassen wir in unseren Produktionsprozess bereitwillig einfließen. Hier hab ich das Gefühl, dass wir zum ersten Mal ein bisschen gegensteuern müssen. Das, was wir eigentlich in diesen martialischen Haldenlandschaften suchen, ist auch die enorme Gewalt, die notwendig ist, um Zivilisation in Bruchteilen zurück zu lassen. Jetzt haben wir von Vornherein schon dieses Material, das so viel Gewalt der Abrissbirne, der Baggerschaufel in sich trägt, und arbeiten zum Ersten Mal in die Gegenrichtung. Es geht auch um ein Harmonisieren und um eine ausgewogene Gewichtung. Ein Perspektivwechsel aufs eigene Thema.

Was finden wir als Spezies konservierungswürdig?

Wie steht ihr zu Denkmälern und zum Verfall per se?

Jeremias: Hier in der Ausstellung geht es ja ganz speziell um das Hinterfragen von der Bedeutung des Denkmals, und auch um das Hinterfragen auf der historischen Ebene. Was finden wir als Spezies konservierungswürdig, was möchten wir auf welche Weise für unsere Nachwelt als kollektive Erinnerung anbieten. Ich glaube, dass in unserer Arbeit von Anfang an dieser Gedanke drin steckt, dass die Ruine im weiteren abstrakten Sinne automatisch ein Denkmal und Monument für den Verfall als abstrakte Größe ist. Ein Phänomen, das wie die Schwerkraft nicht auszuhebeln und nicht abzuschalten ist. Diese Feststellung hat auch eine unglaublich demoralisierende Bedeutungsebene. Egal, wieviel Mühe du dir gibst, es aufzubauen, irgendwann wird es die Zeit dahinraffen. Darüber hinaus gibt es aber dann wieder die Ebene der formalen Ästhetik. Es ein einfach zum Niederknien schön zu sehen, wie ehemalige Stahlfabrik in Belgien über Jahrhunderte in sich zusammen rostet. Oder das ehemaliges Kurhotel, aus dessen Gymnastiksaal eine riesige Eiche wächst und mit der Krone die Decke zum Einsturz bringt. 

Die Höhle des Löwen - haptischer Erlebnisort (c) jeremiasaltmann
Die Höhle des Löwen wird zu einem haptischen Erlebnisort (c) jeremiasaltmann

Andreas: Vielleicht ist es auch spannend, wenn man einen Ziegel als Teil eines Mauerwerks sieht. Als Teil eines Gebäudes, das noch intakt ist, ist der Ziegel anders konnotiert, weil er eine klare Rolle verfolgt, er gibt ein klares Statement, er stützt diesen Teil des Gebäudes. Wenn aber ein Ziegelstein zerbrochen am Boden liegt, könnte der Stein überall gewesen sein, in einer weitaus größeren Zeitspanne verbaut worden sein. Er könnte im Erdgeschoss gewesen sein oder im zehnten Stock, glaub damit passieren die Magie der Anregung in den Köpfen. Wenn man Schutt auch begutachtet und nicht nur einfach als Schutt sieht und sich denkt, was ist das eigentlich, was ist das, das es geschafft hat, dass es nur so daliegt und nicht nachhaltig verbaut wurde, was ist der Grund für diese Demolierung, das jetzt der Dreck vor uns ist. 

Jeremias: Wenn die Versatzstücke zu deutlich zuordenbar sind bzw. wenn sie einer bestimmten Funktion optisch entsprechen, dann löst sich viel von diesem mysteriösen Schimmer auf, der die Ruine umgibt, die ja gleichzeitig auch die perfekte Unterlage für das eigene Spekulationstheater ist.

Wie habt ihr euch kennengelernt und wie war euer Werdegang vor eurem Kennenlernen? Was verbindet euch, was bereichert euch an eurer Kunst, was unterscheidet euch?

Andreas: Kennengelernt haben wir uns einst in Wien im achten Bezirk in einem Lift, der sehr eng ist.

Jeremias: Das muss man heutzutage betonen, weil das miteinander-in-engen-Räumen-ungeschützt-Verharren mehr ja zum exotischen Ausreißer verkommt.

Bei dieser Leinwand haben wir gesagt, wir sperren uns für eine Woche lang in einen Raum ein, und verlassen den nur in Notfällen, und werden so bis zum Exzess arbeiten, und schauen, was passiert. Und das haben wir dann gemacht, und da ist ein sehr überraschendes Bild herausgekommen.

Andreas: Und wir stehen da so im Lift, beide in Farbe geträufelt, und angesaftelt von den verschiedenen Farbtönen, mustern uns und sehen uns das erste Mal, kommen in diesem Lift darauf, dass wir im selben Stockwerk wohnen, und dass wir beide gerade Studenten an Kunstuniversitäten sind. Wir haben uns sehr spontan und sehr schnell ausgemacht, dass wir uns gegenseitig Arbeiten zeigen müssen und bei diesem Fakt ist es nicht geblieben. Wir haben beide Lob- und Kritikpunkte am Anderen gefunden und deswegen haben wir beschlossen, wir beginnen eine große Leinwand gemeinsam zu malen. Für diese Leinwand haben wir uns schließlich für eine Woche lang in einen Raum eingesperrt und das Verlassen-nur-im-Notfall bestimmt. Dabei ist ein sehr überraschendes Bild herausgekommen, mit welchen wir beide sehr bereichert diesen Prozess des Malens verlassen konnten. Es hat uns so sehr gereizt, dass wir beschlossen haben mit einer weiteren Leinwand fortzusetzen. Nach und nach hat sich so dann ein Thema aufgebaut, welches also fast von selbst gekommen ist. Wir haben schon viel diskutiert während dem Arbeiten, aber die Thematik, die wir in unseren Bildern einbauen, ist glaub ich ein Konglomerat zwischen Jeremias Interessen und meinen Interessen und daraus hat sich eine gemeinsame Sprache geformt. 

Die Strafkolonie frei nach Kafka (c) Jeremias Altmann I Andreas Tanzer

Jeremias: Wir werden im Zuge unserer Ausstellung in Luzern als grey time adressiert, so als wäre es der Name eines Kollektivs. Das ist ein Missverständnis, das es ganz schwierig, aufzuheben ist. Tatsächlich ist es der Name der Serie, die wir miteinander vorantreiben, und wir haben separat zu diesem Kollaborationsprojekt unsere ganz eigenen künstlerischen Positionen, die sich ästhetisch gar nicht so Nahe sind, wie man vermuten will. Da verfolgen wir getrennt voneinander grafische wie auch malerische Ziele, die eigentlich wenig Überschneidungen haben. Wir sind nicht von einem Konzept ausgegangen. Sondern ausgehend von den ersten paar Bildern, die wir gemacht haben, haben wir versucht, die Inhalte zu interpretieren. Da ist folgender Gedanke in der Diskussion miteinander aufgekommen: Was, wenn es eine Generation gäbe, die ihr eigenes Ablaufdatum schon vorgegeben weiß, und dann wieder dieser Gedanke nach der Geschichtsschreibung, lohnt es sich, noch irgendetwas für eine Nachwelt festzuhalten, wenn man weiß, man ist vielleicht die letzte Generation der Spezies, man bereitet es nicht mehr für jemanden auf, der es in 150 Jahren zu Gesicht bekommt und sich vielleicht nostalgisch zurückerinnert. Und was ist die Bilderwelt einer solchen Generation, wie lässt sich das moralische Grundgerüst einer solchen Generation visuell portraitieren. Damit ist der Wortlaut Graue Zeit / Grey Time entstanden. Als theoretische Überlegung, die sich dann versucht, in ganz vielen unterschiedlichen Medien, auf ganz idealer Weise stetig neu auszudrücken.

Wie viele Grautöne verwendet ihr, kann man das überhaupt so sagen?

Jeremias: Das war schon im Kunsthistorischen Museum ein Thema. Zuerst die bunten Ausgangsbilder – Wie kommt es, dass wir sie ins bloße Schwarz-Weiß transkribieren? Tatsächlich ist in fast keinem unserer Bilder nur Schwarz und Weiß oder neutrales Grau vorzufinden, sondern jedes Grau hat so einen ganz leichten Farbstich in eine Richtung. Obwohl es vielleicht nur in ganz leichten Nuancen passiert, ist es immer auch ein farbiges Komponieren, und ein Komponieren zwischen Warm und Kalt.

Andreas: Die chemischen Zusammensetzungen sind nahezu unendlich.

Jeremias: Es gibt keine Bezifferung für die vielen vielen Facetten und Nuancen, die wir kennenlernen während unserer Arbeit. Wenn man einen Blick auf unser digitales Archiv greytime.net wirft, glaube ich, findet sich sehr schnell der Beleg dafür, dass es unglaublich bunt zugeht innerhalb des vermeintlichen Überbegriffs “Grau”. Genau so wie wir heute eine Schutthalde vor uns haben, die sich nicht versucht, nur in bestimmten Grautönen zu gebärden, sondern vom zertretenen knallroten Feuerlöscher bis zur bläulichen Stoff-Flagge alles mögliche in sich beherbergt.

Andreas: Ja, ich glaube auch, das ist eine der Grundüberlegungen, dass Farben in der Kunstgeschichte sich optisch in den Epochen äußern. Farben sind immer gebunden an eine Form von Trend, das sieht man in der Modewelt ganz gut, da gibt’s Zeiten, da sind die Krocha unterwegs und alle haben neonfarbene Kappal, und ein Jahr später haben alle gelbe Pullis, und zwei Jahre später sind es halt die Erdtöne.

Jeremias: Ich hab das Gefühl, wir sind momentan im Pastell-Zeitalter gefangen.

Andreas: Ja, ich glaub auch. Farblich wollen wir uns distanzieren und den Affekt der Farbe in den Hintergrund drängen.

Habt ihr bestimmte Ängste – wie die Angst vor dem Verfall, vor der Zukunft, vor der politischen Situation?

Andreas: Vor der politischen Situation habe ich keine Angst, obwohl ich weiß, dass es brenzlig ist, und vor der Kippe steht, dass menschenverachtende Politik passiert, dass viele Menschen sterben müssen, weil die Grenzen nicht geöffnet werden, und keine Solidarität herrscht, ich finde das extrem beunruhigend und das macht mich wütend, aber Angst habe ich keine davor. Angst verblendet.

Und diese Gleichgültigkeit, diese Wienerische Wurschtigkeit, sich über prinzipiell alles ausbreitet, und tatsächlich dann auch für diesen Moment die Bemühungen und Bestrebungen in den Äther verpuffen. Ich glaube, das knabbert an der extrem narzisstischen Hoffnung auf Ewigkeit.

Jeremias:  Europa ist eine extrem überpriviligierte Festung, die bloß keine Verantwortung über irgendeinen Partikel über sich hinaus übernehmen möchte. Als wir im Kunsthistorischen Museum unser Bild gemalt haben, ist an uns ein sehr breiter Fächer an Interpretationsszenarien herangetragen worden. Das hat angefangen von “Aha ihr bedient euch da an antiker Skulpturen”, und “natürlich die Künstler wollen sich immer auf die Antike zurückberufen”, quasi der behütete Schoß von kulturellem Denken. Genauso gibt es da die Interpretationslinie des ewig postmodernen Kanons – ein Rückgriff auf den bereits bestehenden Rückgriff, wenn ein Gegenwartskünstler das Renaissancebild nachmalt. Dann ist automatisch schon die Wiedergeburt der Antike mitreflektiert, in ein viel gegenwärtigeres Szenario. Gleich mit der Frage, ob wir uns da auf das Bombardement des Kunsthistorischen Museums im Zuge des Zweiten Weltkriegs beziehen. In Schwarz-Weiß-Fotografien, die wir bis dato nicht gekannt haben, aber die tatsächlich unserem Bild ästhetisch sehr nahe waren. 2018, als die Palmyra-Syrien-Auseinandersetzung stattgefunden hat, wo Kämpfer die Kulturstätten verwüstet haben, ist auch die Frage aufgekommen, was möchte man konservieren, was möchte man aufheben? Wie viel Radikalität oder Ignoranz braucht es, Hinweise auf Zivilisationsgeschichte schlagartig auszulöschen. Dann war die nächste Fragestellung, ob das nicht ein überdreister Versuch war, dem kunsthistorischen Museum seine eigene Zukunft aufzuzeichnen. Wir sehen da jetzt sozusagen die Gemäldefragmente. Vielleicht gibt es in 300 Jahren niemanden mehr, der sich darum kümmert. Stefan Weppelmann, Kunsthistoriker und Direktor der Gemäldegalerie des Kunsthistorischen Museums in Wien, sagte einmal im Gespräch zu uns, “Zerfall fände nicht aus der Materie selbst statt, also eine Pyramide falle nicht von selbst auseinander, weil die Umwelt zu stark daran rüttelt, sondern weil der kulturelle Außendruck abnimmt, der den Erhalt voraussetzt.” Vielleicht ist das für mich eine große Furcht, die auch mit einem nicht unwesentlichen Maß an Ekel verbunden ist: Die Vorstellung, dass unserer Spezies das Gefühl für Wertigkeit, moralische wie auch kulturelle, gänzlich abhanden kommt und diese Gleichgültigkeit sich über prinzipiell alles ausbreitet und dann tatsächlich ab diesem Moment alle Bemühungen und Bestrebungen in den Äther verpuffen. Ich glaube, das knabbert an meiner extrem narzisstischen Hoffnung auf Ewigkeit.

Über die Ausstellung:

Die Kunstinstallation „Die Höhle des Löwen“ von Andreas Tanzer und Jeremias Altmann ist Teil des Mehrjahresprojekts „L21: Die dunkle Seite des Löwen„. Sie findet von 16.10. – 13.12.2020 in der Kunsthalle Luzern statt und setzt sich kritisch mit dem Denkmal des Löwen auseinander. Das Löwendenkmal wird jährlich von mehreren tausend Besuchern besichtigt. Es erinnert an die während der Französischen Revolution gefallenen Schweizer Gardisten und steht für das absolutistisch vorherrschende politische System in Europa im 18. Jahrhundert.

Aufgrund der weltweiten Black Lives Matter Bewegung und der Beschmierung des Karl-Lueger-Denkmals von Rechtsextremisten in Wien ist die Debatte um Denkmäler als Träger kulturellen Erbes aktueller denn je. Wie gehen Mensch und Staat mit geschichtsträchtigen Stätten wie dem Löwendenkmal um? Sind Denkmäler auch Überbleibsel längst überholter politischer Systeme? Welchen Status haben sie in einer Gesellschaft?

Fragen, die die Künstlerinnen und Künstler sich im Mehrjahresprojekt L21 stellen.

Zu den Künstlern:

Jeremias Altmann: geboren 1989, Studium in Grafik und Drucktechnik an der Angewandten Universität in Wien, lebt und arbeitet in Wien

Andreas Tanzer: geboren 1987, Studium der Bildenden Kunst in Linz und Bristol, lebt und arbeitet in Wien 

Mehr über die Künstler findet ihr unter andreastanzer.com und jeremiasaltmann.net sowie unter greytime.net

Alle Infos zu der Ausstellung “Die dunkle Seite des Löwen” gibt es auf www.loewendenkmal21.ch sowie unter www.kunsthalle-luzern.ch

Das Interview führte Hannah Richlik. 

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