Der 5. Mai ist Europäischer Protesttag zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen. Im Interview mit 0816 spricht Heike Grebien, Sprecherin der Grünen für Menschen mit Behinderungen, über deren Inklusion in die Gesellschaft, bisherige Meilensteine und die Forderungen der Grünen.
Welche Schritte sind für eine Inklusion von Menschen mit Behinderungen in der Gesellschaft in Österreich notwendig?
Es ist nach wie vor so, dass die negativen Stereotype über Menschen mit Behinderungen sich hartnäckig in den Köpfen der Menschen ohne Behinderungen, die in Österreich leben, halten. Es wurde seit 1992 sehr viel für Menschen mit Behinderungen erreicht, durch den Einsatz der Selbst-Vertretungen und engagierter Politiker*innen. Dennoch ist der Weg ein weiter, deshalb arbeite auch ich an Anträgen zu den verschiedenen Lebensbereichen von Menschen mit Behinderungen.
Welche Forderungen konnten Sie bisher für Menschen mit Behinderungen umsetzen?
Im Bereich der Bildung haben wir einen Antrag dazu gestellt, dass Menschen mit Behinderungen nun auch zur Ausbildung als Elementarpädagog*innen zugelassen werden. Dies ist nämlich aktuell noch mit vielen Hürden verbunden. Das Thema ist insofern wichtig, als dass es nicht nur Menschen mit Behinderungen einen Zugang zu einem Arbeitsfeld ermöglicht, sondern auch Kindern mit und ohne Behinderungen die Möglichkeit gibt, von klein auf gelebte Inklusion zu erleben. Vor allem für Kinder mit Behinderungen ist es wichtig, hier Erwachsene mit Behinderungen in den Rollen einer Elementarpädagog*in zu sehen.
Im Bereich der Arbeit haben wir es geschafft, für die Jahre 2021 und 2022 eine Erhöhung von 40 Millionen Euro im Budget des Ausgleichstaxfonds zu erzielen. Damit sollen unter anderem auch vermehrt Maßnahmen zur Inklusion von Menschen mit Behinderungen auf dem Arbeitsmarkt gefördert werden, wie Lohnkostenzuschüsse. Bei dieser Erhöhung handelt es sich um die höchste Erhöhung des ATF seit seinem Bestehen.
Wichtig ist es mir auch Menschen mit Behinderungen, die noch keinen Zugang zu Arbeitsmarkt haben, einen Zugang zu ermöglichen. Hierzu habe ich im Frühjahr 2021 einen Antrag gestellt, welcher unter anderem dazu auffordert, das System der Begutachtung der Arbeitsfähigkeit und Arbeitsunfähigkeit zu überarbeiten und Begutachtungen im Rahmen des sozialen Modells von Behinderungen durchzuführen. Des Weiteren sehe ich es als wichtig an, Maßnahmen zu erarbeiten, welche die Durchlässigkeit von Tagesstrukturen/Werkstätten für Menschen mit Behinderungen erhöhen. Denn auch Menschen mit Behinderungen, die in Tagesstrukturen sind, müssen die Möglichkeit erhalten, in den allgemeinen Arbeitsmarkt zu wechseln, wenn sie dies wollen.
Im Bereich der Frauengesundheit haben wir einen Antrag gestellt, welcher das Ziel verfolgt, Frauen mit Behinderungen einen besseren Zugang zu Informationen über gynäkologische Vorsorgeuntersuchungen zu ermöglichen. Dies wollen wir erreichen, indem Informationen in einer Broschüre in leichter Sprache zur Verfügung stehen. Auch Videos in Gebärdensprache müssen Frauen, die gehörlos sind, zur Verfügung gestellt werden. Die Broschüre soll nicht nur Frauen mit Behinderungen, sondern auch Betreuungspersonen und Gynäkologinnen ermöglichen, den Frauen eine solche Vorsorgeuntersuchung besser erklären zu können. Frauen mit Behinderungen sind weitaus öfter von psychischer und sexualisierter Gewalt betroffen als Frauen ohne Behinderungen. Hier gilt es wirkungsstarke Maßnahmen zu setzen.
Frauen mit Behinderungen sind weitaus öfter von psychischer und sexualisierter Gewalt betroffen als Frauen ohne Behinderungen.
Heike Grebien im Interview mit 0816 über die Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen
Im Bereich der Gewaltprävention: Hier ist es uns ein wichtiges Anliegen, möglichst rasch Maßnahmen zur Gewaltprävention, vor allem bei Frauen mit Behinderungen, zu setzen. Frauen mit Behinderungen sind weitaus öfter von psychischer und sexualisierter Gewalt betroffen als Frauen ohne Behinderungen. Hier gilt es, wirkungsstarke Maßnahmen zu setzen. Unter anderem sehen wir es als wichtig an, Frauen mit Behinderungen zu stärken und ihnen niederschwellige Peer-Beratung zur Verfügung zu stellen. Dort erfahren Frauen Empowerment, werden bei ihren Anliegen unterstützt. Hierbei forciere ich gerade die Durchführung des Pilotprojekts Frauenbeauftrage in Einrichtungen, welches Frauen mit Behinderungen, welche in Einrichtungen leben, dabei begleiten soll, als kompetente Peers zu handeln, zu unterstützen und auch zu stärken. Im Bereich der politischen Strategie stellt der Nationale Aktionsplan Behinderung 2022-2030 eine wichtige Strategie der nächsten acht Jahre der Arbeit mit und für Menschen mit Behinderungen in Österreich dar. Er dient dazu die Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention in einen Umsetzungsplan zu bringen. Damit der Nationale Aktionsplan Behinderung „Zähne“ erhält, haben wir im Frühjahr 2021 einen Antrag hierzu gestellt. Der Antrag fordert die gesamte Bundesregierung dazu auf, die Maßnahmen mit Indikatoren zu versehen, so dass eine Messung des Umsetzungsstands möglich ist, sowie die Maßnahmen auch mit Ausreichend Budget zu versehen. Zudem sollen die Empfehlungen des UN-Komitees zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention (Concluding Observations) sowie die Ergebnisse der Evaluierung des ersten Nationalen Aktionsplans Behinderung einfließen. Wichtig ist hier auch die Partizipation aller Interessensgruppen entsprechend sicherzustellen. Dies gelingt nur mit Zurverfügungstellung von Leichter Sprache und Gebärdensprach-Dolmetsch in allen Schritten des Prozesses.
Inwieweit werden Menschen mit Behinderungen weiterhin in unserer Gesellschaft in Österreich diskriminiert?
Menschen mit Behinderungen werden in unsere Gesellschaft auf vielfältige Arten diskriminiert. Vor allem aber Erleben sie Diskriminierungen durch Barrieren. Dies können bauliche Barrieren sein, wie fehlende Rampen am Eingang zu einem Geschäft. Dies können aber auch kommunikative Barrieren sein, wie komplexe und schwierige Sprache. Dies können aber auch Vorurteile sein, die Menschen mit Behinderungen alltäglich begegnen. Die Vorurteile sind sehr unterschiedlich und schränken die Teilhabe von Menschen mit Behinderungen gravierend ein (Stichwort: Ableismus). Barrieren gibt es aber auch in der Gesetzgebung, seitens des Bundes, aber auch sehr stark seitens der Länder. Auf Bundesebene setze ich mich dafür ein, dass wir diese gesetzlichen Barrieren abbauen.
Was halten Sie von der Behindertenquote? Finden Sie diese in Österreich ausreichend umgesetzt?
Laut Bundesbehinderten-Einstellungsgesetz besteht die Pflicht in Unternehmen, für 25 Mitarbeiter*innen jeweils einen Menschen mit Behinderung einzustellen. Unternehmen, die diese Einstellungsquote nicht erfüllen, haben eine sogenannte Ausgleichstaxe zu zahlen. Diese wird entsprechend der Unternehmensgröße festgelegt.
Interessensvertretungen der Menschen mit Behinderungen weisen schon seit vielen Jahren darauf hin, dass das aktuelle System der Ausgleichstaxen-Zahlungen nicht optimal ist. Viele Unternehmen erfüllen die Anstellungsquote nicht, die damit einhergehenden Zahlungen der Ausgleichstaxe, werden jedoch hingenommen.
Menschen mit Behinderungen brauchen Chancen am Arbeitsmarkt. Dazu wird es langfristig notwendig sein, dass System der Ausgleichstaxezahlungen zu verändern. Wichtig ist mir als Sprecherin für Menschen mit Behinderungen, dass bei Änderungen des Systems, diese wirklich mehr Chancen danach haben, in den Unternehmen Anstellungen zu finden und nicht die Betriebe einseitig bevorteilt werden.
Menschen mit Behinderungen brauchen auf sehr unterschiedliche Art und Weise Pflege und Betreuung. Jedoch brauchen sie in erster Linie die Möglichkeit, selbstbestimmt Angebote der Pflege und Betreuung zu gestalten.
Selbstbestimmtheit ist ein wichtiger Faktor für Menschen mit Behinderungen – Heike Grebien im Interview mit 0816
Wie kann der Ausbau der Pflege und Betreuung für Menschen mit Behinderungen erfolgen?
Menschen mit Behinderungen brauchen auf sehr unterschiedliche Art und Weise Pflege und Betreuung. Jedoch brauchen sie in erster Linie die Möglichkeit, selbstbestimmt Angebote der Pflege und Betreuung zu gestalten. Dies ist in Österreich noch nicht entsprechend gegeben. Ermöglicht kann dies bspw. dadurch werden, dass die Angebote der Persönlichen Assistenz ausgebaut werden, so dass Menschen mit Lernschwierigkeiten und Menschen mit psychischen Behinderungen, diese in Anspruch nehmen können. Hier haben wir ein Pilotprojekt dazu in Planung.
Wie kann es zu einer verbesserten finanziellen Unterstützung für Menschen mit Behinderungen kommen? Betroffene klagen oft über zu wenige Stunden bei der Betreuung – wie kann man diesen Umstand verbessern?
Österreich ist ein föderalistisches Land. Auch im Bereich Menschen mit Behinderungen fallen sehr viele Zuständigkeiten in die Länder, gewisse Themengebiete liegen in Bundesverantwortung. Zuständigkeiten liegen aber auch in den Selbstverwaltungskörperschaften wie die Sozialversicherungen, die PVA, usw. Das bedeutet, dass es neun verschiedene Regelungen gibt, zum Beispiel im Bereich der persönlichen Assistenz in der sogenannten „Freizeit“. Hier möchte ich gleich darauf hinweisen, dass ich das Wort „Persönliche Assistenz Privat“ dazu verwende, denn eine Behinderung hört in der Freizeit nicht auf. Daher haben wir Grüne im Regierungsprogramm auch die Vereinheitlichung der Persönlichen Assistenz bundesweit festgehalten und arbeiten derzeit intensiv an einem Pilotprojekt „Persönliche Assistenz für Alle“.
Die Antragstellung für die Betreuung von Menschen mit Behinderungen dauert meistens sehr lange – wie kann man die Situation hier verbessern?
Wie bereits erwähnt, gibt es bei der Antragsstellung für die Betreuung je nach Bundesland unterschiedliche Systeme und Wege. Es ist mir sehr wichtig, den Weg zu Antragsstellungen zu vereinfachen und einen besseren Zugang für Menschen mit Behinderungen zu Leistungen zu ermöglichen. Deshalb haben wir im April 2021 einen Antrag eingebracht, welcher den Sozialminister und den Arbeitsminister dazu auffordert, Schritte zum Aufbau von One-Stop-Shops zu unternehmen. Dies bedeutet, Stellen zu schaffen, bei denen lediglich ein Antrag gestellt wird und nicht mehr bspw. drei Anträge bei drei verschiedenen Stellen einbringen zu müssen. Die Bundesminister sind unter anderem dazu aufgefordert, One-Stops-Shops im Bereich der Hilfsmittel und Heilbehelfe einzurichten. Es soll auch einen One-Stop-Shop im Bereich der Beratung und Betreuung geben, sowie für persönliche Assistenz.
In der Behindertenarbeit herrscht teilweise oft starker Bedarf an Betreuer*innen – wie kann man hier einlenken?
Da in Österreich die Löhne über die Gewerkschaften verhandelt werden, ist es notwendig, dass diese auch eine Erhöhung der Löhne einfordern. Das unterstütze ich und wir Grüne auf jeden Fall. Zudem gilt es, sich die Dienstzeiten anzusehen.

Die Betreuung von Menschen mit Behinderungen als auch die Pflege von alten Menschen wird größtenteils von Frauen ausgeübt – wie können mehr Männer für diese Berufe angeworben werden? Ist dies überhaupt erwünscht?
Generell haben wir in unserer patriarchalen Gesellschaft die Situation, überall dort, wo der Frauenanteil sehr hoch ist, ist auch die Bezahlung niedrig. Und auch von der gesellschaftlichen Bewertung werden diese oftmals weit unterschätzt – so wie Frauen im generellen, aufgrund der Geschlechtsstereotype, weitaus unterschätzt werden. Das hat also nicht unbedingt speziell mit dem Bereich Assistenz oder Pflege zu tun, sondern nur dort wird es besonders sichtbar durch die COVID-19 Krise. In den letzten zehn Jahren ist der Anteil der Männer in Österreich im Bereich der Behindertenhilfe, aber auch in der Pflege ein wenig gestiegen – es stellt sich aber heraus, dass diese oftmals nicht in diesem Bereich bleiben, da der Verdienst gering ist und die gesellschaftliche Anerkennung fehlt. Für mich ist dies ein zynischer Auswuchs neoliberalistischer, patriarchaler Politiken und ich habe mich immer gegen das Ausspielen der Marginalisierten untereinander ausgesprochen.
Für mich ist dies ein zynischer Auswuchs neoliberalistischer, patriarchaler Politiken und ich habe mich immer gegen das Ausspielen der Marginalisierten untereinander ausgesprochen.
Die Sprecherin der Grünen im Interview mit 0816
In Pflegeberufen arbeiten oft Menschen aus anderen EU-Ländern wie der Slowakei, Tschechien und Polen. Wie ist Ihre Meinung dazu?
Als die Debatte um eine Einführung der 24h Betreuung geführt wurde, das war 2007 unter Schüssel (ÖVP), hat Mann entschieden, dass es eine „win-win-Situation“ einerseits für die zu pflegenden in Österreich ist (aus finanzieller Hinsicht) und für die Frauen aus den sogenannten „Ostblock-Staaten“, die für die harte, unterbezahlte Arbeit noch immer mehr Geld bekommen als in ihren Heimatländern. Für mich ist dies ein zynischer Auswuchs neoliberalistischer, patriarchaler Politiken und ich habe mich immer gegen das Ausspielen der Marginalisierten untereinander ausgesprochen.
Wie kann unsere Gesellschaft in naher Zukunft aussehen, in der Menschen mit Behinderungen in unserer Gesellschaft inkludiert sind?
Für diese Vision braucht es viele kreative Köpfe. Vor allem aber mutige Menschen, die sich nicht abbringen lassen und die sich mit voller Kraft gegen die Ausgrenzung von Kindern mit Behinderungen, zum Beispiel in den Regelschulen, einsetzen. Menschen, die sich nicht von den Stereotypen „beeindrucken“ lassen und mit gutem Beispiel vorangehen.
Für mich persönlich ist Inklusion vor allem eines: eine Haltung!
Heike Grebien im Interview mit 0816 über Inklusion
Für mich persönlich ist Inklusion vor allem eines: eine Haltung! Um diese Vision einer inklusiven Gesellschaft durchzuführen braucht es mehr innovative, positive und starke Projekte. Es braucht mehr Peer-Beratung und eine starke Selbstvertretung für Menschen mit Lernschwierigkeiten, wie es das Projekt WIBS Tirol zeigt. Es braucht mehr Ausbildungsmöglichkeiten in vielen unterschiedlichen Branchen, wie es das Projekt WINS in Wien oder das Projekt „in Arbeit“ in der Steiermark, zeigt. Es braucht mehr Informationen in einer zugänglichen Form für Menschen, die leichte Sprache brauchen, wie es das Projekt KII in Oberösterreich macht. Es braucht eine starke und selbstbewusste Interessensvertretung der Menschen, die bis jetzt noch nicht ihre Interessen öffentlich selber vertreten haben, wie es der Verein IdeeWien vorzeigt.
Und es brauch inklusive und regionale Projekte, die allen Partizipation ermöglichen, so wie es Tirol im Rahmen des Projekts „Legislatives Theater“ zur Erarbeitung des Teilhabegesetzes gemacht hat oder wie es Vorarlberg mit dem Projekt „Inklusives Vorarlberg“ macht.
Mehr zur Arbeit von Heike Grebien findest du hier.
Foto Credits Titelbild: Josh Appel