Wie ist es, in Wien obdachlos zu sein? ShadesTours gibt Einblicke in die Wiener Obdachlosenszene. 0816 begleitete Daniel bei seiner Tour durch den ersten Wiener Gemeindebezirk. Hier könnt ihr den ganzen Beitrag lesen.
Es ist Ende Dezember in Wien. Wir treffen Daniel im ersten Bezirk in der Bäckergasse. Es ist kalt.
„Hallo, ich heiße Daniel, ich bin für heute euer Touristenführer!“
Daniel ist Mitte 60, klein und schlank. Vor kurzem, erzählt er, sei er noch im Spital gewesen, er hätte Corona gehabt. „Da konnte ich endlich einmal fast zwei Wochen ausschlafen“, berichtet er und freut sich.
„Wie viele Obdachlose, denkt ihr, gibt es in Wien?“, fragt Daniel zu Beginn der Tour in die Runde.
„Keine Ahnung, so 10.000?“, antwortet eine Teilnehmende.
„Ungefähr. Man schätzt die Dunkelziffer aber auf mehr als 20.000“, antwortet Daniel.
Er steht vor einer Wand in der Bäckergasse, die schwach beleuchtet ist. „Kalt, nicht wahr?“, fragt er in die Runde. Es hat um die 0 Grad. „Was bedeutet für euch Obdachlosigkeit?“
„Keine Wohnung zu haben“, antwortet die Teilnehmerin neben mir. Sie zündet sich eine Zigarette an.
„Nichts zu essen zu haben“, antwortet eine andere.
„Essen gibt es genug in Wien“, erwidert Daniel. „Was noch?“
„Nicht gemeldet zu sein“, sagt ein Teilnehmer aus der Runde.
„Genau.“
Wir gehen ein Stück weiter über die Rotenturmstraße. An uns vorbei fährt ein Fiaker. Menschen schlendern in guten Schuhen und teuren Taschen vorbei. Die Rotenturmstraße glitzert. Der Weihnachtsschmuck ist wieder einmal sehr kitschig in diesem Jahr.
Bei einer Einkaufsunterführung bleiben wir stehen. Neben uns sitzt ein Mann im Rohlstuhl. Er hat ganz unauffällig eine Mütze auf seinen Schoß gelegt. Ein Mann geht an ihm vorbei und legt etwas Geld in die Kappe. „Ist es nicht erstaunlich, wie nah arm und reich hier aneinander liegen“, erwähnt Daniel.
„In der Obdachlosenszene nannten sie mich den Schweizer. Ich komme aus der Schweiz. Den Spitznamen Ricola habe ich abgelehnt. In der Szene hat jeder einen Spitznamen“, erzählt uns Daniel. „Wien ist in Reviere eingeteilt. Du kannst nicht einfach so da betteln, wo du möchtest. Ich war früher ein Rudelsführer, das heißt, ich habe eine Gruppe von mehreren Obdachlosen angeführt.“
Ein Stück gehen wir wieder weiter zum Stephansplatz.
„Wie viele Obdachlose, denkt ihr, befinden sich hier?“, fragt Daniel uns.
Ich sehe mich um. Ich erkennen zwei, vielleicht drei Personen.
„Dreizehn“, sagt Daniel. „Viele Obdachlose erkennt man nicht sofort.“
Daniel erzählt, er wäre früher alkohol- und medikamentenabhängig gewesen. Er war in einer Gastronomie tätig. „Als Gastronom kippst du schon mal deine paar Gläser Wein am Tag hinunter.“ Jetzt, so Daniel, mache er gerade eine Ausbildung zum Sozialarbeiter.
Wir gehen weiter. Gegenüber vom Kleinen Café beim Kapuzinerkloster bleibt die Gruppe stehen. „Hier bekommen Obdachlose die Möglichkeit, sich aufzuwärmen. Sie können einen Tee trinken oder eine Suppe essen.“
Am Ende der Tour verabschiedet er sich von uns. „Ich muss jetzt noch in die Gruft, da helfe ich in der Küche mit, weil einer wegen Corona ausgefallen ist.“

ShadesTours wurde 2015 gegründet und gibt Obdachlosen die Möglichkeit, sich wieder ein Leben aufzubauen. Die Tourenführer*innen behalten sich einen Teil des Teilnehmendenbetrags ein.
Du möchtest bei einer ShadesTour mitmachen?
Hier findest du alle Infos: https://shades-tours.com